D. Wisler: La démocratie genevoise

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Titel
La démocratie genevoise.


Autor(en)
Wisler, Dominique
Erschienen
Genf 2008: Editions Georg
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nenad Stojanovic

Die Demokratie läuft bekanntlich Gefahr, sich in eine «Tyrannei der Mehrheit» (Tocqueville) zu verwandeln. Wie ist es nun möglich, dies zu verhindern? Mehrere Wege sind denkbar. Zum Beispiel ein geeignetes Wahlsystem. Nehmen wir an, dass alle Abgeordneten eines Parlaments in Einerwahlkreisen gewählt werden. Dann muss das Wahlsystem gezwungenermassen dem Majorzprinzip folgen. Es ist theoretisch denkbar, dass in jedem Wahlkreis eine knappe Mehrheit (51 Prozent) der Wähler für den jeweiligen Kandidaten der Partei A und eine starke Minderheit (49 Prozent) für den jeweiligen Kandidaten der Partei B stimmt. Das Resultat ist ein Parlament, das sich zu 100 Prozent aus Vertretern der Partei A und keinem Vertreter der Partei B zusammensetzt. Mit anderen Worten hätte dann die Hälfte der Wählerschaft keine Vertretung im Parlament.

Ist das nur ein Gedankenexperiment? Nein, das ist Geschichte, wie uns Dominique Wisler in seinem Buch La démocratie genevoise zeigt. Bei den Grossratswahlen 1889 war die Wählerschaft der zwei Tessiner Hauptparteien – die Freisinnigen und die Konservativen – fast gleich gross. 51 Prozent der Wähler wählten die Konservativen, während die Freisinnigen 49 Prozent der Stimmen erhielten. Dank dem Majorz-Wahlsystem und der geschickten Einteilung der Wahlkreise konnten sich aber die Konservativen 75 Prozent der Sitze im Kantonsparlament sichern. Seit 1870 an der Macht, hatten sie soeben die Grenzen der Wahlkreise entsprechend ihren eigenen Interessen und mit viel Kalkül umdefiniert. An sich hatten die Konservativen nichts Antidemokratisches getan: sie hatten verfassungskonform gehandelt. Und trotzdem führten ihre Entscheidungen zu Gewalt und fast zu einem Bürgerkrieg: der «Tessiner Revolution» von 1890. Ein Staatsrat der konservativen Partei – Luigi Rossi – wurde im Regierungsgebäude getötet. Nur der prompte Einsatz von Bundestruppen konnte eine weitere Eskalation der Lage verhindern. Für eine echte Versöhnung der beiden Parteien war aber eine grundlegende Reform der Tessiner Institutionen nötig. Die Lösung, die Bundesbern vorschlug bzw. verordnete, war simpel, aber revolutionär: Proporz. In einem Proporzwahlsystem lässt die Einteilung der Wahlkreise – falls sie genug gross sind – keinen Raum für taktische Spielchen einzelner Parteien.

Heute scheint diese Lösung selbstverständlich. Von 26 Kantonen wird nur das Bündner Parlament nach reinem Majorz-Verfahren gewählt. Noch Ende des 19. Jahrhunderts war das Tessin, malgré lui, der Pionier. Das Beispiel wurde aber schnell von anderen Kantonen imitiert. Vor dem Ersten Weltkrieg beschloss schliesslich eine Mehrheit der Kantone, für die Parlamentswahlen ein Proporz-Verfahren einzuführen.

Die Einführung des Proporz-Wahlsystems im Tessin fiel jedoch nicht aus heiterem Himmel. Die Wurzeln dieser Idee liegen in der Genfer Republik. Dort war der Auslöser, ähnlich wie im Tessin, eine umstrittene Wahl und ein beinahe darauf folgender Bürgerkrieg. Das bewaffnete Aufeinandertreffen zwischen Unabhängigen und Freisinnigen vom 22. August 1864, das nur dank dem prompten Einsatz der Bundestruppen beendet wurde, überzeugte den Genfer Philosophen und Theologen Ernest Naville, dass der Kern des Problems in den Institutionen, d.h. im Wahlsystem, lag. Schon ein paar Wochen nach diesen Ereignissen begann er, sich für den Proporz einzusetzen. Zuerst innerhalb von intellektuellen Kreisen, dann immer mehr in der Zivilgesellschaft. Nicht nur in Genf: Bis 1870 wurden mehrere «Gesellschaften für Proporzvertretung» in der Schweiz gegründet und auch im Ausland, etwa in den USA, fand diese Bewegung einflussreiche Anhänger.

Als 1890 die Tessiner Revolution ausbrach, war Naville klar, dass die Zeiten reif waren für die Einführung des Proporzes. Für seine Studie durfte Dominique Wisler die bisher nicht veröffentlichte Korrespondenz von Naville konsultieren und konnte so beweisen, dass der Genfer stark hinter den Kulissen – beim Bundesrat und bei Tessiner Politikern – gewirkt hatte, um den Proporz als Lösung des Konflikts im Südkanton anzubieten. Als schliesslich der Direktor des Bundsamtes für Statistik, vom Bundesrat beauftragt, den Proporz als Lösung der Tessiner Frage vorschlug, erfolgte dies im direkten Kontakt mit Naville.

Das Wahlsystem ist aber nicht der einzige Weg, um die potentielle oder tatsächliche Gefahr der «Tyrannei der Mehrheit» abzuschwächen. In den gleichen Jahren, als Naville seinen Proporz-Vorschlag propagierte, war eine andere Bewegung im Gang. Deren Mittelpunkt befand sich in Zürich. Eine soziale Bewegung rund um Karl Bürkli wollte Instrumente der direkten Demokratie einführen. Während Naville in rechten und elitären Kreisen der Genfer Bourgeoisie tätig war, war Bürklis Bewegung links und volksnahe. Statt die Institutionen der repräsentativen (also indirekten) Demokratie zu verbessern, wirkte er auf einer anderen Ebene: Ein Teil der politischen Macht müsse von den gewählten Institutionen (Regierung, Parlament) in die Hände des Volkes transferiert werden.

Kein Wunder, dass sich die zwei Bewegungen in den ersten Jahren mit Argwohn betrachteten. Erst später, nach 1890, anerkannte Naville die Vorteile der direkten Demokratie, während Bürkli ein überzeugter Befürworter des Proporzes geworden war. Es ist tatsächlich eine Ironie der Geschichte, so Wisler, dass sich diese zwei antagonistischen Bewegungen gegenseitig unterstützten. Nur ein Beispiel: Ohne Druck der direkten Demokratie hätten die Freisinnigen die Konservative Partei wohl nicht in die Bundesregierung integriert (ab 1891 mit einem Vertreter, ab 1908 mit zwei), was als so genannter «freiwilliger Proporz» bezeichnet werden könnte.

Die Hauptthese von Wislers Studie lautet, dass Institutionen einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten der sozialen und politischen Akteure ausüben, dass aber tiefgreifende institutionelle Reformen – wie etwa die Einführung des Proporz-Wahlsystems oder der direkten Demokratie – ausserordentlicher Ereignisse bedürfen: soziale Aufstände, Unruhen, Revolutionen. Wisler nennt sie émeutes transformatrices, «transformierende Aufstände». Die Cholera-Epidemie im Jahr 1867 und die gleichzeitige Wirtschaftskrise hatten in Zürich einen günstigen sozialen Kontext geschaffen, der die Türe für die Einführung der direkten Demokratie im Kanton Zürich im Jahr 1869 öffnete. Das Timing spielt also eine wichtige Rolle. Es ist sicher kein Zufall, dass die Volksinitiativen für die Einführung des Proporzes für die Wahl des Nationalrates in den hoffnungsvollen Vorkriegsjahren der Belle Epoque zwei Mal scheiterten (1900 und 1910) und erst 1918, mit dem Generalstreik und dem Ersten Weltkrieg im Hintergrund, Erfolg hatten. Als 1932 blutige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei bzw. Armee in Zürich und Genf ausbrachen, war aber das politische System unfähig, die politischen Forderungen dieser sozialen Bewegung zu absorbieren. In Genf zum Beispiel, so Wisler, hätte die Rechte die Unruhen verhindern können, wenn sie das Proporzsystem für die Wahl des Regierungsrates bewilligt hätte.

Die grosse Stärke von Wislers Buch besteht darin, dass es geschickt Ansätze aus Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft kombiniert, und sich trotzdem wie ein Roman liest. Schade nur, dass der Titel (der keinen erklärenden Untertitel trägt) etwas irreführend ist und wohl damit zu tun hat, dass das Buch im Jahr der Wahl des Genfer Verfassungsrates – la Constituante – erschienen ist. Nicht einfach «Genfer Demokratie» steht im Mittelpunkt dieser Studie, sondern die Entstehung zweier wichtiger Institutionen der Schweizer Demokratie – das Proporz-Wahlsystem und die direkte Demokratie –, so wie wir sie heute kennen.

Zitierweise:
Nenad Stojanovic: Rezension zu: Dominique Wisler: La démocratie genevoise. Genf, Georg Editeur, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 383-385.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 383-385.

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